Preisfindungsstellen – eine Alternative zur Marktpreisbildung , Teil 2

Auszüge aus Otto Jachmann: Beobachtungen und Gedanken zu Wirtschaft und Gesellschaft, Borchen 2008; Teil 1 erschien im letzten Info-Brief, Teil 3 „Die Ferkelnotierung“ wird in einem der folgenden Info-Brief erscheinen
Die Kernobstnotierung
Der Kernobstmarkt weist einige Besonderheiten auf, welche einer Preisfindung der beschriebenen Art entgegenkommen:
Der Erwerbsobstanbau konzentriert sich auf einige wenige geschlossene Gebiete mit besonders günstigem Klima: die Bodenseeregion, Südtirol, die Niederelbe und Gebiete in Belgien und Südfrankreich.
Die Obsterträge, Erzeugungsmengen und damit auch die Erzeugerpreise schwanken stark von Jahr zu Jahr.
Die Preise bilden sich frei am Markt; die EU-Obstmarktordnung sieht Mengen-, aber keine Preisinterventionen vor.
Es hat sich eine übersichtliche Vermarktungsstruktur mit einer überschaubaren Zahl von genossenschaftlichen und privaten Erzeugergroßmärkten herausgebildet.
Von der Natur des Produkts befördert, arbeiten Obstanbauer und Erzeugergroßmärkte eng zusammen. Die in Großkisten gepflückten Äpfel werden vom Feld weg an die Märkte geliefert, dort sortiert, eingelagert und in Kommission verkauft. Bis zum Verkauf bleibt die Ware Eigentum der Erzeuger.
Die Erzeugergroßmärkte handeln also nicht mit eigener Ware, sondern mit der ihrer Vertragsanbauer. Die Handelsmarge, d.h. der Anteil der Großmärkte an den Verkaufserlösen, ist von vornherein unter den Partnern vereinbart und festgelegt. Die Erzeugergroßmärkte sind Vermittler zwischen den Erzeugern auf der einen und den Abnehmern im Fachgroß- und Einzelhandel auf der anderen Seite. Als Vermittler sind sie ebenso daran interessiert, ihren Erzeugern gute Preise auszuzahlen und angemessene Erlöse zu sichern, als auch ihre Abnehmer zu fairen Preisen zu beliefern. Das ist eine selten glückliche Konstellation für eine Preisfindungsstelle. Sie kann mit den Marktleitern der Erzeugergroßmärkte allein betrieben werden, weil diese die Interessenlage sowohl der Erzeuger als der Abnehmer genau kennen und in sie zum Ausgleich bringen können, ohne dass eigenes Gewinninteresse hineinspielt, denn sie sind Kommissionäre.
Die Kernobstnotierung ist in eine neutrale Marktberichts- und Studienstelle der Landwirtschaftsverwaltung eingegliedert. Dort wird sie von einem Obstmarktfachmann betreut. Dieser hat vier Aufgaben:
Den Obstmarkt beobachten, mit Fachleuten in den einzelnen Obstbaugebieten Verbindung halten und laufend Marktinformationen sammeln.
Wöchentlich Umsatzmeldungen der beteiligten Erzeugergroßmärkte auswerten und Statistiken über Verkaufsmengen und Preise der eigenen Region erstellen.
Die Notierungssitzungen leiten, zu denen sich während der Vermarktungssaison von August bis Juni jeden Mittwochvormittag die Leiter der Erzeugergroßmärkte versammeln.
Unmittelbar nach der Sitzung die Marktstatistik der vergangenen Woche und die Notierungsergebnisse in einem aktuellen Marktbericht zusammenfassen, der am gleichen Tage an Abonnenten in ganz Europa versandt und in das abrufbare Informationssystem eingestellt wird.
Die Notierungssitzung läuft nach einem genau festgelegten Verfahren ab. Die Mitglieder der Notierungskommission, also die Marktleiter der Erzeugergroßmärkte der Region, sitzen an drei Seiten eines großen Konferenztisches. Von der Stirnseite des Tisches aus, wo sich Projektionsfläche und Wandtafel befinden, gibt der Leiter der Sitzung zunächst einen Überblick über die aktuelle Marktlage. Daran schließt sich ein kurzer Meinungsaustausch an, bei dem die Marktleiter den Marktbericht aus ihrer Sicht ergänzen oder korrigieren können. Dann beginnt die Preisfindung. Nacheinander werden die in der vergangenen Woche erzielten Durchschnittspreise und Preisspannen für die einzelnen Apfelsorten und Qualitäten zur Kenntnis an die Wand projiziert. Bei jedem Posten wird innegehalten, um über eine geheime Abstimmung die anzustrebende Preisspanne für die laufende Woche zu ermitteln. Dabei schlägt der Leiter einen Preis vor, über den jeder Teilnehmer durch verdeckte Tasten unter der Tischplatte mit „ja“ oder „nein“ abstimmt. Die Zahl der Ja- und Neinstimmen erscheint in einer Leuchtanzeige. Wenn „ja“ überwiegt, ist der Preisvorschlag angenommen.
Andernfalls wird so lange über den nächsthöheren und nächstniedrigeren Preis abgestimmt, bis die Ja-Stimmen in der Überzahl sind. So werden alle Sorten und Qualitäten durchgegangen und die Preisspannen gefunden, welche die Mehrheit der Marktleiter in der laufenden Woche für die Marktlage angemessen hält.
Die auf diese Weise zustande gekommene Kernobstnotierung ist in Fachkreisen anerkannt, wird europaweit abgerufen und aufmerksam verfolgt. Sie erleichtert Verkaufsverhandlungen und trägt dazu bei, dass sich die Preise von Woche zu Woche stetig und der jeweiligen Marktlage entsprechend entwickeln. Mit der Notierung im Rücken haben es die Erzeugergroßmärkte leichter, dem Preisdruck und der Marktmacht der Großabnehmer standzuhalten. Es kommt mehr Gleichgewicht in den Markt.