Tiermast, Mikroorganismen und die Biologie der Moral, Teil 2

Ein Beitrag von Thomas Hardtmuth, Auszug; Teil 1 zum gleichen Thema erschien in Info-Brief 68/ Oktober 2021, Rubrik 2/ Landwirtschaft und Handel

In den Krankenhäusern wächst die Sorge vor der zunehmenden Ausbreitung sogenannter multiresistenter Keime, die allein in Deutschland tausende Todesfälle pro Jahr verursachen, mit steigender Tendenz. Durch immer raschere Resistenzentwicklung hat sich mittlerweile eine Vielzahl von gefährlichen Keimen (MRSA, ESBL, VRE) entwickelt, die vor allem für Schwerkranke auf Intensivstationen eine wachsende Gefahr darstellen; im Falle einer akuten Infektion stehen immer weniger effektive Wirkstoffe zur Verfügung.

Eine Hauptbrutstätte für die tödlichen Keime rückt nun immer mehr ins Blickfeld: die Massentierhaltung. Hier werden bundesweit pro Jahr 1700 Tonnen Antibiotika verabreicht, in der Humanmedizin sind es weniger als die Hälfte. Die Bilder von den katastrophalen Lebensverhältnissen von Hühnern, Schweinen und Puten sind
im öffentlichen Bewusstsein präsent, und obwohl die ethisch-moralische Entrüstung, ja Beschämung wächst
und die allgemeine Gesundheitsgefährdung dramatische Ausmaße annimmt, geschieht von politischer Seite
wenig – im Gegenteil, viele solcher Großbetriebe werden noch immer mit Millionenbeträgen subventioniert.
Ohne den Großeinsatz von Antibiotika wären solche Mästereien gar nicht zu betreiben, denn diese Form der
nicht artgerechten Haltung bietet einen idealen Nährboden für verschiedenste Seuchen, an denen die
meisten Tiere ohne antibiotische Dauertherapie verenden würden.

Nach einer neuesten Untersuchung vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) sind 90
Prozent des bei Discountern erhältlichen Putenfleischs mit methicillin-resistenten Bakterien der Art
Staphylococcus aureus (MRSA) und Antibiotika kontaminiert. Wir sprechen bereits heute vom Anbruch der
postantibiotischen Ära und meinen damit einen Zustand medizinischer Ohnmacht gegenüber den
Infektionserkrankungen, wie er zu Beginn des letzten Jahrhunderts bestand.

Diese aktuelle Thematik bietet hier den Anlass, einmal das Bewusstsein auf eine verborgene Welt zu richten,
auf das unsichtbare und so heilsame Leben der Mikroorganismen, und damit die Frage zu berühren, ob es
eine Biologie der Moral gibt. Ohne eine Wesenserkenntnis dieser ursprünglichen Lebensformen ist ein
Verständnis der kollektiven Erkrankungen, der Seuchen und anderen Infektionskrankheiten nicht möglich.

Quelle: Demeter | Rundbrief Nr. 151, Juni 2021

Die Bedeutung der Mikro-Organismen

Auszüge aus einem Aufsatz von Thomas Hardtmuth mit dem Titel „Die Tiermast, Mikroorganismen und die Biologie der Moral“

Ur-Biosphäre von unerschöpflicher Vitalkraft

Über die Vielfalt der Mikroorganismen in der freien Natur können wir nur spekulieren; nicht einmal ein Prozent dieser Lebewesen ist überhaupt erforscht. Nach neuesten Schätzungen machen die Mikroorganismen den Hauptteil der gesamten Biomasse der Erde aus. Ihr Vorkommen erstreckt sich von den höchsten Luftschichten bis hinunter in 5000 Meter tiefe Erdschichten, wo Mikroorganismen in Millionen Jahre alten Sedimenten überdauern, wobei die Generationszeiten bis zu 1000 Jahre betragen. »Wir verstehen überhaupt noch nicht, wie die Bakterien so lange Zeit überleben können.«

Wir wissen heute, dass nicht nur viele Gesteinsschichten wie Kalk, Apatit, Kohle u.a. biogenen Ursprungs sind, sondern dass auch manche Erzlager (Bändererze) auf die Wirksamkeit sauerstoffproduzierender Mikroorganismen zurückzuführen sind. Das Vorkommen dieser einfachsten Lebensformen ist ubiquitär, »sterile« Bereiche gibt es auf der Erde nicht. Ein Gramm Humus enthält etwa eine Milliarde Keime, darunter etwa 8000 verschiedene Arten, ein Teelöffel Meerwasser etwa eine Million und ein Kubikmeter Luft je nach Bedingungen 1000 bis zu mehreren Millionen, ein Milliliter Regen, Hagel oder Schnee im Durchschnitt 1700 Mikroben. Wir finden diese Lebensformen auch innerhalb von Gesteinen, sogenannte Endolithe, wo sie unter extrem kargen Bedingungen oft riesige Zeiträume überdauern. Zu diesen »Extremophilen« gehört beispielsweise auch der Deinococcus radiodurans, der in den Kühlwasserkreisläufen von Kernkraftwerken unter einer dauerhaften Strahlenbelastung gedeiht, von der ein Tausendstel bereits tödlich für den Menschen ist – evolutionsbiologisch ein Kuriosum, denn nirgendwo auf der Erde herrschen oder herrschten nur annähernd so hohe Strahlendosen, an welche sich diese Lebewesen hätten anpassen können.

Auf der japanischen Insel Hokkaido wurde auf einem heißen, sauren Vulkanboden ein Urbakterium (Archaeon) namens Picrophilus torridus gefunden, das bei einer Temperatur von 60 Grad und bei einem pH-Wert von 0,7 gedeiht. Dieser Lebensraum entspricht einer heißen, verdünnten Schwefelsäure, die auf unserer Haut sofort schwere Verätzungen hervorrufen würde. Thermophile Bakterien wie der Pyrodictium occultum vermehren sich bei Temperaturen von 110 Grad im Bereich von Vulkanschloten am Meeresgrund, wieder andere überlebten über 500 Tage an der Außenwand der Raumstation ISS, also im offenen Weltraum, wo sie neben dem Vakuum extremen Temperaturschwankungen und Strahlungen ausgesetzt waren. Im Jahr 2000 wurden aus einem Salzkristall 250 Millionen Jahre alte Bakteriensporen wieder zum Leben erweckt.

Wir kennen Mikroorganismen (Cupriavidus metallidurans), die aus einer hochgiftigen Goldchlorid-Lösung reines Gold in Form von Nanopartikeln herstellen oder das ebenfalls höchst giftige Arsen in ihren Stoffwechsel einbauen. Das Stoffwechselrepertoir dieser Organismen und ihre Anpassungsfähigkeit an extremste Lebensräume scheinen unbegrenzt. Es gibt auf der Erde keine natürlichen Stoffe, die nicht von den Mikroorganismen abgebaut werden. Ihre Vitalkräfte scheinen unerschöpflich: In den Bakterien bezwingt und beherrscht das Leben den Stoff in nahezu vollkommener Weise.

Nur selten führen wir uns die Bedeutung dieses unsichtbaren Lebens vor Augen. Gäbe es keine Mikroorganismen, die Erde wäre nach kurzer Zeit übersät mit mumifizierten Leichen und abgestorbenen Pflanzen, die Substanzkreisläufe der Natur wären blockiert und das Leben würde nach kurzer Zeit unter seinen eigenen Erzeugnissen ersticken. Die Mikroorganismen bilden eine Art Ur-Biossphäre auf der Erde als Grundlage allen Lebens. Wir können von einer Umwelt-Homöostase sprechen, wenn wir die Milieustabilität in Erde, Wasser und Luft, wie sie hauptsächlich durch die Mikroorganismen aufrechterhalten wird, ins Auge fassen. Wie die Haut- und Darmflora für unsere Gesundheit essenziell ist, so scheinen diese Kleinstlebewesen eine unabdingbare Voraussetzung für die Frische und Gesundheit der Natur zu sein. Nur selten macht man sich im Alltag bewusst, welche Leistungen diese Lebewesen nicht nur für Böden, Gewässer und die Frische der Luft, sondern auch in Kläranlagen, auf Müllhalden und Kompostierwerken sowie in anderweitiger Geruchseliminierung vollbringen.

Bei den in der neueren Zeit immer wieder vorkommenden enormen Ölverschmutzungen durch Tanker- und Bohrinselhavarien haben sogenannte hydrocarbonoklastische Bakterien größere Katastrophen immer wieder verhindert: Alkanivorax borkumensis ist ein Einzeller, der unter normalen Verhältnissen im Meer kaum nachweisbar ist, aber im Fall einer Ölpest sich rasant vermehrt und vor allem in südlichen Gewässern durch Aufspaltung von Rohöl und Rückführung der Abbauprodukte in natürliche Kreisläufe zu einem erstaunlich schnellen Abbau der Verschmutzung beigetragen hat. Und gäbe es keine Archaeen im Meeresboden, die das dort eingelagerte Methan verstoffwechseln, würden große Mengen dieses Treibhausgases frei werden und zu einer Klimakatastrophe führen.

Wir können die Mikroorganismen durchaus als Immunsystem der Erde bezeichnen, weil sie wie die Immunzellen im menschlichen Organismus jedes Fremdleben eliminieren und damit die Milieustabilität und Reinheit der Lebensräume gewährleisten. Wenn man heute die Menschen fragt, welche spontanen Assoziationen sie bei dem Wort Bakterien haben, so werden in den meisten Fällen Begriffe wie Krankheit, Seuche und Fäulnis genannt, was aber an der eigentlichen Natur dieser Wesen völlig vorbeigeht. Weniger als ein Promille dieser Organismen sind überhaupt pathogen; sie spielen für die Gesundheit von Erde und Mensch eine weit wichtigere Rolle.

 

Quelle: Demeter | Rundbrief Nr. 151, Juni 2021

Neu erschienen von Thomas Hardtmuth: Mikrobiom und Mensch – Die Bedeutung der Mikroorganismen und Viren in Medizin, Evolution und Ökologie, Wege zu einer systemischen Perspektive, Salumed Verlag 2021