Beitrag von Wolfgang Ritter
Kürzlich las ich ein Interview mit Günter Faltin. Er ist ein ganz erstaunlicher Wissenschaftler, der in seinem Buch Wir sind das Kapital zeigt, wie man von einer ersten Idee bis zu einem ausgearbeiteten Konzept gelangt und wie man das Konzept dann in der Praxis verwirklicht. Faltin baute den Arbeitsbereich Entrepreneurship an der Freien Universität Berlin auf, lehrt seit 2013 an der Universität Chiang Mai, gründete 1985 die Projektwerkstatt GmbH mit der Idee der Teekampagne als Modell für Entrepreneurship. Das Unternehmen wurde zum weltgrößten Importeur von Darjeeling Tee!
„Die Teekampagne startete 1985 in der Projektwerkstatt“, berichtet Faltin im Interview mit Cornelia Gretz und André Bleicher. „Ich hatte mir die Wertschöpfungskette des Tees angesehen und festgestellt, dass der Tee bei uns zehnmal teurer war als in den Erzeugerländern. Als Kostentreiber erwies sich der Handel, insbesondere die Zwischenhandelsstufen und die handelsüblichen Kleinpackungen. Skandalös daran war auch, dass nur ein geringer Anteil der Wertschöpfung bei den Erzeugern verblieb. Die Kernidee der Teekampagne bestand in der Beschränkung auf eine einzige Teesorte – aber dafür die beste -, um so Einkaufsmengen zu generieren, die groß genug waren, dass man den Zwischenhandel überspringen und direkt im Erzeugerland einkaufen konnte.“
Großpackungen, die innerhalb eines Monats in Deutschland gegen Vorkasse an Verbraucher verkauft wurden, erlaubten einen Preis, der deutlich unter dem des konventionellen Handels lag. Und 50 Prozent des Verkaufspreises verblieben im Erzeugerland. Wer kauft nun die großen Mengen? „Wir haben viele Sammelbestellungen“, so Faltin. „Ein Kunde bestellt für seinen Bekanntenkreis mit und verteilt den Tee dann weiter. Das findet in Schulen statt, in Büros, in Kanzleien, in der Hausgemeinschaft oder im Freundeskreis.“
Faltin: „Ich selbst denke seit einiger Zeit über etwas nach, das ich Freundschaftsökonomie nenne. Die Grundidee: Einen Freund betrügt man nicht. Im Gegenteil: Man versucht ihm möglichst Gutes zu tun. Und eben auch, indem man ihn an den eigenen ökonomischen Kenntnissen und Erfahrungen teilhaben lässt.“
Diese Aussagen Faltins entsprechen dem Ansatz, den einige Firmen – und auch der Bio-Verbraucher e.V. – verfolgen, dargestellt in meinem Buch Wirtschaft der Liebe – Elemente einer künftigen Wirtschaftsordnung.
Faltin fragt nun: „Wie müssen wir Ökonomie gestalten, damit nicht nur die egoistischen Eigenschaften des Menschen in den Vordergrund treten oder sogar noch durch das ökonomische System angeheizt werden?“ Er sieht, wie ich, eine mögliche Transformation vom jetzigen marktwirtschaftlichen System mit Konkurrenzkampf hin zu einem brüderlichen Wirtschaftssystem, das auf Kooperation beruht, durch „Insellösungen“. Er nennt etwa folgende Ansätze: konsumkritische Lebensformen, wie „weniger ist mehr“, genossenschaftliche Organisationen, Lebensmittelkooperative, Direktkauf in Hofläden, Abo-Kisten, Solidarische Landwirtschaft (SoLaWi), gemeinwohlorientierte Ökonomie, sozial orientierte Unternehmen, Tauschgemeinschaften, Nachbarschaftsdienste.
Von der Verbraucherseite her gedacht bedeutet das: Wir interessieren uns für unsere Lieferanten, möchten wissen, wer sie sind, wie sie arbeiten, welche Nöte und Erfolge sie haben. Wir sind bereit, den „gerechten Preis“ zu bezahlten, damit sie uns auch morgen noch mit ihren wertvollen Produkten beliefern können. Apropos „wertvolle Produkte“: Verbraucher sollten regelmäßig auf Qualitäts- und Preisrecherchen für ihre Einkaufsentscheidungen zurückgreifen. Jahrzehntelange Beobachtung zeigt, die teuersten Produkte sind nicht immer die besten.
Durch so geübtes gegenseitiges Interesse von Lieferanten und Konsumenten wird das übliche anonyme Marktgeschehen ein Stück weit überwunden, die Marktteilnehmer schätzen sich wieder, eine assoziative Zusammenarbeit, eine Ökonomie der Liebe wird die Zukunft sein.
Quelle für das Interview: Sozialimpulse 3/2024, S. 4, www.sozialimpulse.de